Jeremias Gotthelf und die "Gottesbelehrung" seiner Schriften

"D Gschrift is Härz ychenäh" (Die Schrift in das Herz hineinnehmen)
Autor: Pfr. Dr. Beat Weber (Pfarrer, Buchautor)
Dieser Artikel (PDF) wurde zugleich publiziert bei: Trouvaillen Stadtmission Basel
Politische und gesellschaftliche Umbrüche verbinden sich mit einem Bedeutungsverlust kirchlicher Verkündigung und Lehre. In Reaktion auf Krieg, Revolution und Chaos dehnt der Staat seine Macht aus und bindet dabei die Kirchendiener in seine Geschäfte ein. Die neue Ökonomie verspricht mehr als der alte Gottesglaube; das Wirtshaus erhält mehr Zulauf als das Gotteshaus. Die Rede ist von einer Zeit, die rund 200 Jahre zurückliegt. In selbiger Zeit nahm ein Pfarrer die Schriftstellerei als neues Medium zu Hilfe, um damit zu lehren. Wie die Bibel erzählt er Geschichten, wie Jesus redete er in Gleichnissen. Sein Stoff ist das bäuerliche Leben im Emmental, wo er lebt und wirkt. Die Rede ist von Pfr. Albert Bitzius (1797–1854) alias Jeremias Gotthelf. Seine Verkündigung mittels gleichnishafter Erzählung hat auch in unserer Gegenwart, die ebenfalls von Umbrüchen gekennzeichnet ist, ihr Wort zu sagen.
Ein Verkündiger wird zum Erzähler, Bitzius zu Jeremias Gotthelf – das Erstlingswerk
Wir zählen das Jahr 1836: Bitzius, knapp 40jährig, ist seit fünf Jahren Pfarrer in der weitläufigen Kirchgemeinde Lützelflüh. Er ist verheiratet, hat zwei Kinder und ein drittes wird im kommenden Jahr das Licht der Welt erblicken. In diesem Jahr sterben seine Mutter (der Vater ist schon vor 12 Jahren gestorben) und sein Bruder, und in diesem Jahr beginnt sein schriftstellerisches Wirken. 1837 erscheint der erste Roman: „Der Bauern-Spiegel oder Lebensgeschichte des Jeremias Gotthelf von ihm selbst geschrieben“. Zum idyllischen Bauernbild seiner Zeit (Biedermeier) zeichnet er ein Gegenbild mit Armen- und Verdingwesen, Ausnützung von Bedürftigen, unbrauchbarem Schulsystem, korrupten Beamten und anderen Missständen. Im Vorwort schreibt er, dass sein „Spiegel“ zeige, was man nicht sieht oder sehen will. Dies geschehe zur Weisheit, in Liebe und Treue, „denn kennt ihr diese Schatten nicht, so könnt ihr sie auch nicht verwischen und tilgen“. Das Vorhalten des Spiegels tut er als „der ehrliche Jeremias Gotthelf, dem Gott geholfen, und der in wahren christlichen Treuen auch andern helfen möchte“.
Im Erstlingswerk steht im Vordergrund, Not und Schuld aufzudecken und deren Verursacher zu brandmarken. Die Folgewerke sind „heller“ und geben gelebtem Christusglauben mehr Raum.
Das Leben redet und die Schrift auch – die weiteren Werke Gotthelfs
Nach dem Ausfall herkömmlicher Unterweisung und Predigt im „Bauernspiegel“ gewinnen in der Folge Verkündigung und Lehre an Bedeutung. Gotthelf lässt freilich mehr das Leben lehren als den Pfarrer predigen. Im Sinne des allgemeinen Priestertums werden unterschiedliche Menschen in Dienst genommen: In der „Schwarzen Spinne“ sind die Worte zur Taufe schnell vergessen. Die Taufunterweisung des Grossvaters aufgrund des Zapfens am Fensterholz nachher daheim bleibt dagegen unvergessen. In der „Vehfreude“ entfährt dem während der Predigt eingeschlafenen Felix das Wort „Änneli, gimm mr es Müntschi“. Von der Predigt weiss niemand mehr etwas, aber das Müntschi-Wort bleibt in aller Munde. Es führt zu einer Hochzeit und eröffnet dem Dorf den Weg zu einer „Neugeburt“. In „Zeitgeist und Berner Geist“ heisst es dreimal, dass Hunghans und Ankebenz im selben Wasser getauft worden sind – mit Gott und untereinander verbunden. In der Not wird Benz dem Hans zum wahren christlichen Bruder, der um das innere Band weiss und hilft, was nottut. Die Taufe wird zum Zeichen, dass Gott dem auf Abwege geratenen Hans die Türe nicht zugeschlagen hat. Durch grosse Not, in die ihn der Tod seines Sohnes führte, findet Hans gnädig zu Umkehr und Glauben.
Menschen, Geschehnisse und Dinge, Landschaft und Schöpfung können Bild und Gleichnis werden und unverhofft zu predigen anfangen, Gerichtsansage und Heilszusage mit sich führen. Im August 1837 trat die Emme über die Ufer und hinterliess verheerende Folgen. Darauf bezieht sich „Die Wassernot im Emmental“, die mit den Worten einsetzt: „Es gab eine Zeit, wo man ob den Werken Gottes Gott vergass, wo die dem menschlichen Verstande sich erschliessende Herrlichkeit der Natur die Majestät des Schöpfers verdunkelte. Diese Zeit geht vorbei.“ In glaubensarmen Zeiten von Klimanotstand, Corona-Krise und anderem mehr ist Gotthelfs prophetische Deutung bedenkenswert. Nach der Wassernot betrifft sie auch den Umgang mit den ökonomischen Folgen. Diese legen Egoismen offen, führen zu Gezänk und Eigennutz. Zugleich führen sie zu helfender Solidarität, Linderung der Nöte und von Gott gewährten Neuanfängen. Am Ende heisst es: „Darum lasset die Predigt des Herrn euch zu Herzen gehen!“ Es tue Not, „zu hören auf dieses nie verstummende Wort“.
Im „Schulmeister“ bringt Mädeli dem haltlosen Peter Käser mit ihrer Liebe das Christuslicht und bezeugt, wie die Heilige Schrift Bedeutung gewinnt und Kraft entfaltet: „,Los, my liebe Ma … es düecht mi, das syg gar e grosse Fehler, dass me dGschrift ume so uf em Papier het, u we me se liest, so lat me se uf em Papier; es düecht mi geng, me sötts so da ychenäh is Herz; da würd me scho dra däiche, wes Zyt wär. Aber me lat Gschrift Gschrift sy, u dr Mönsch blybt e Mönsch. Ih cha je länger je minger so ganzi Kapitel lese so drüber eweg; ih muss mi geng bsinne by allem u möchts nie meh vergässe‘ … Sie erfuhr es, dass, wer an das Wort nicht nur glaubt, sondern es auch in sich aufnimmt, sein Haus auf einen Felsen gebaut hat und nicht mehr jedem Wind der Laune, jeder Strömung des Gemütes preisgegeben ist.“
Wird im „Bauernspiegel“ dem Pfarrer schuldhaftes Totalversagen angelastet und kommen im „Schulmeister“ problematische und wegweisende Pfarrgestalten in den Blick, so finden sich in „Geld und Geist“ Predigten an wichtigen Wegmarkierungen. Nach dem sonntäglichen Zerwürfnis vor Pfingsten sinnet Christen am Waldrand und findet keinen Rat. Änneli dagegen begegnet Gott im Zeichen einer Taunersfrau, die in der vollen Kirche der spät Gekommenen ein Plätzli freimacht, sowie im Wort der Predigt. Wieder daheim führt die ins Kacheli von Christen geschobene Milchhaut und das gemeinsame Unservater vor dem Schlafengehen zur Versöhnung.
An „Geld und Geist“ werden zwei Dinge deutlich: Zum einen, dass das Gotteshaus und die umliegenden Häuser aufeinander bezogen sind und aufeinander verweisen. Vom Zusammenhang zwischen Haus und Öffentlichkeit spricht das wohl berühmteste Gotthelf-Wort: „Zu Hause muss beginnen, was leuchten soll im Vaterlande.“ Als „Eines Schweizers Wort an den Schweizerischen Schützenverein“ findet es sich in der Festschrift für das eidg. Schützenfest in Chur (1842). Das Zweite betrifft die unterschiedlichen Vorgehens- und Verhaltensweisen: Änneli geht in die Kirche (Gotteswort) und Christen zum Wald (Gottesschöpfung). Eine Schlüsselpassage aus „Anne Bäbi Jowäger“ (II) macht deutlich, dass Gotthelf darin ein Mit- und Nebeneinander sieht: Wie wir Menschen zwei Augen haben, die ein einziges, ganzes Bild der Wirklichkeit ergeben, so hat Gott dem Menschen zwei Bücher gegeben, die uns die eine Wirklichkeit Gottes erschliessen. Das eine Buch ist die Heilige Schrift, das andere Buch ist das von Gott herkommende und täglich uns umgebende Leben; es umfasst Schöpfung und Geschichte: „Ein Buch wirft Licht auf das andere Buch, beide strömen sich Leben zu, und halbdunkel wenigstens bleibt ein Buch ohne das andere Buch“. Wer die Bibel, aber nicht das Leben kennt, ist zwar fromm, findet sich aber im Leben nicht zurecht. Und wer sich mit dem Leben begnügt, ohne das Wort Gottes im Herzen zu tragen, findet weder Gott noch gelangt er zum Heil. Zurück zu „Geld und Geist“ und dem geschilderten Zerwürfnis: Der Waldessaum, wohin Christen sich begibt, vermag es nicht zu richten, obwohl „der Himmel heiter über ihm war, die ganze Erde lachte“. Es tut sich kein Weg auf aus der Verkrümmung in sich selbst; es findet sich kein Schlüssel aus dem eigenen Gefängnis. Die Schöpfung als Buch des Lebens zeigt Gottes Spuren, doch ihr fehlt die deutende Kraft des Gotteswortes, das Christus bringt und Leben schafft. Ihm ist Änneli in der Kirche begegnet; dadurch verändert, begegnet sie Christen, und beiden gereicht es zu Versöhnung und neuem Leben.
Bekannte Werke von Gotthelf:
• Die Leiden und Freuden eines Schulmeisters (1838/39)
• Ueli der Knecht (1841)
• Die schwarze Spinne (1842)
• Anne Bäbi Jowäger (1843/44)
• Geld und Geist (1843/44)
• Käthi die Grossmutter (1847)
• Ueli der Pächter (1849)
• Die Käserei in der Vehfreude (1850)
• Zeitgeist und Berner Geist (1851/52)
Das Werk Gotthelfs und seine Reichweite bis heute
Mit Gotthelf und seinen Werken beschäftigen sich Philologie (Germanistik), Geschichte und Theologie. Die Ausstrahlung von Gotthelfs Werken geht jedoch weit über die Wissenschaft hinaus. Gestalt und Werk des Jeremias Gotthelf verdankten sich einem gegenüber der Predigt neuem Medium: dem Wort in Gestalt von Novelle und Roman. Man mag es als Fügung Gottes ansehen, dass zweimal noch neue Medien Gotthelfs gleichnishafte Geschichten unter die Leute brachten, diesmal im Berner Dialekt: In den 1940/50er Nachkriegsjahren waren es Hörspiele von Ernst Balzli, die die Menschen vor dem Radio versammelten. Und rund 10 Jahre später geschah Vergleichbares nochmals, als die von Franz Schnyder verfilmten Werke mit bekannten Schauspielern zu sehen waren.
Viele kennen Gotthelf aufgrund der Filme. Allerdings bringen Hörspiele und noch mehr die Filme seine Werke aufbereitet und gekürzt zur Darstellung. Die Filme eröffnen aber auch jenen einen Zugang, denen seine, in oft epischer Breite verfassten Werke zu viel sind. Nicht selten wird die geistliche Dimension seiner Schriften freilich unterschlagen und Gotthelf einseitig auf Unterhaltung reduziert oder ökonomisch verwertet. Mit seinem Namen verbinden sich denn auch Märkte, Aufführungen, Menues und Produkte aller Art. Was unsere Stadt betrifft: Basel hat ein nach dem Berner Dichterpfarrer genanntes Stadtquartier, ein Schulhaus (1902 eingeweiht) sowie eine Strasse und einen Platz. In „Jakobs Wanderungen“ ist Basel zweimal Station des deutschen Wandergesellen sowie Eingangs- und Ausgangstor seiner Schweizerreise.
Hinweise und Links
In dieser kleinen Einführung wird über Gotthelf gesprochen – in der Hoffnung, dass manche „angesteckt“ werden, ihn selber reden zu lassen. Dazu sind nachfolgend einige Hinweise und Links gegeben.
• Gotthelf lesen!
Es geht nichts über das Lesen. Die Bücher kann man in fast jeder Bibliothek beziehen oder kaufen. Es gibt sie auch digital bzw. als eBooks (z.B. bei Exlibris, Orellfüssli).
Link: https://de.wikisource.org/wiki/Jeremias_Gotthelf
• Gotthelf hören!
Wer lieber Gotthelf hört, als ihn liest, kann sich zu einigen Werken Hörbücher besorgen. Auch die alten Hörspiele kann man bei SRF teils noch anhören:
Link: https://audioteka.com/de/search/author?query=Jeremias%20Gotthelf
Link: https://www.srf.ch/sendungen/hoerspiel/geld-und-geist-von-jeremias-gotthelf
Link: https://www.srf.ch/radio-srf-musikwelle/hoerspiel-klassiker
• Gotthelf sehen!
Bis heute erscheinen Gotthelf-Filme in TV-Sendeprogrammen. Man findet sie teils auch auf auf youtube, kann sie in Mediatheken ausleihen oder auf DVDs kaufen.
Link: https://www.youtube.com/results?search_query=jeremias+gotthelf+filme
• Sich über Gotthelf informieren!
Nebst hilfreichen Webseiten (wikipedia, Gotthelf Zentrum Lützenflüh, Forschungsstelle Uni Bern) gibt es eine Vielzahl Schriften über Jeremias Gotthelf: einführend, zu einzelnen Werken und Themen, allgemein verständlich und wissenschaftlich. Mir waren in meiner Beschäftigung mit Gotthelf zwei Werke besonders hilfreich:
- K. Fehr, Jeremias Gotthelf. Poet und Prophet – Erzähler und Erzieher. Zu Sprache, dichterischer Kunst und Gehalt seiner Schriften, Bern: Francke, 1986
- U. Knellwolf, Gleichnis und allgemeines Priestertum. Zum Verhältnis von Predigtamt und erzählendem Werk bei Jeremias Gotthelf, Zürich: TVZ, 1990.
Link: https://de.wikipedia.org/wiki/Jeremias_Gotthelf
Link: https://www.gotthelf.ch/de
Link: https://www.gotthelf.unibe.ch/gotthelf/leben_und_werk/index_ger.html
Bildlegende (der Reihe nach):
1. Film-Szene aus der „Käserei in der Vehfreude“ (1958)
2. Portrait von Pfr. A. Bitzius, 1844 (J.F. Dietler, Burgerbibliothek Bern)
3. Ausgabe mit Anker-Illustrationen
4. Im Innern der Würzbrunnen-Kirche, Drehort der Kirchenszenen der Gotthelf-Filme